Die Gothaer wird 200 Jahre alt. Bisher haben wir zurückgeschaut und die Highlights der 200-jährigen Geschichte des Unternehmens beleuchtet. Doch wie sieht das Leben in 200 Jahren aus? Man kann trefflich darüber diskutieren – wir haben einige prominente Experten gefragt, wie sie die Welt in 200 Jahren sehen. Im Interview äußert sich der Soziologe Prof. Armin Nassehi über die Entwicklung virtueller Arbeitswelten, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und die Frage, ob wir in 200 Jahren den Herausforderungen des Lebens noch gewachsen sein werden.
Herr Professor Nassehi, Sie sind Soziologe. Wie, glauben Sie, wird die Digitalisierung in Zukunft unsere Arbeitswelt innerhalb von Unternehmen, aber auch in der Zusammenarbeit mit Kunden und Geschäftspartnern, verändern?
Als Soziologe kann ich wenig über die Technik selbst sagen. Aber die Frage der gesellschaftlichen Auswirkungen kann ich sehr wohl erklären. Deshalb weiß ich: Auf den persönlichen Kontakt wird das Geschäftsleben niemals ganz verzichten können, aber ohne Zweifel werden viele Prozesse noch stärker digitalisiert. Im übrigen heißt Digitaltechnik nicht, dass es zu unpersönlicher Vereinheitlichung kommt. Vielleicht ermöglicht gerade Digitaltechnik ein noch genaueres Eingehen auf den einzelnen Kunden.
Ist die langjährige feste Zusammenarbeit weiterhin ein Zukunftsmodell – mit Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern?
Wir sind gerade in Deutschland sehr stark davon geprägt, dass Arbeitsverhältnisse, aber auch Kundenverhältnisse von Langfristigkeit geprägt sind. Hier werden wir uns sicher auf einem internationalen Niveau einpendeln, das von höherer Volatilität geprägt sein wird.
Die Gothaer wurde vor 200 Jahren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit gegründet: Versicherte haften gegenseitig für alle Schäden. Da müsste einem Soziologen heute und womöglich auch noch in 200 Jahren das Herz aufgehen, oder?
Ja, diese Form organisierter Solidarität hat einen großen Vorteil: Es ist keine Schicksalsgemeinschaft, der man ausgeliefert ist. Sie hilft dem, der einen Schaden hat, koppelt das aber von konkreten Dankespflichten ab. Das Versicherungsprinzip auf Gegenseitigkeit ist damit sowohl ein Generator von Solidarität als auch von individueller Freiheit.
Der modernen Gesellschaft wird nachgesagt, immer egoistischer zu werden. Ist dann das Prinzip der Gegenseitigkeit, wie es Versicherungen wie die Gothaer umsetzen, überhaupt zukunftsfähig?
Ich denke schon – zumindest widerspricht das Prinzip der Versicherung auf Gegenseitigkeit nicht dem Prinzip der Individualität. Aber es spricht ja auch ein ökonomisches, also letztlich egoistisches Kalkül dafür, sich einer Schutzgemeinschaft wie einer Versicherung anzuschließen.
Wie wird die Welt in 200 Jahren aussehen? Wie werden wir dann leben?
Zugegebenermaßen können wir das nicht wissen. Wenn wir an die Welt vor 200 Jahren denken, gab es so gut wie keine Hinweise auf das, was in heutigen Zeiten stattfindet. Wir müssen lernen, dass unsere Erwartungen an die Zukunft stets mit den Mitteln der Gegenwart arbeiten müssen – andere haben wir nicht. Und da dürfen wir hoffen, aus heutigen Konflikten zu lernen: die weltweite soziale Ungleichheit und die Überwindung von Armut, die Lösung des Energie- und Klimaproblems, die Frage, in welchen politischen Einheiten wir leben werden.
Wird die Welt in 200 Jahren sicherer oder unsicherer sein als heute?
Eigentlich muss sie unsicherer werden, weil mit der zunehmenden Komplexität auch die Gefahren steigen. Was wir derzeit erleben, ist eine mangelnde Resilienz dadurch, dass der wechselseitige Abhängigkeitsgrad von Wertschöpfungsketten, Infrastrukturen, Lieferwegen, Mobilität so enorm ist, dass das Gesamtsystem wenig fehlerfreundlich ist, im Gegenteil: es ist fehleranfällig. Hier müssen ganz neue Formen der Sicherung eingebaut werden; Regionalität oder Redundanz zum Beispiel.
Welchen Herausforderungen werden die Menschen in 200 Jahren gegenüberstehen? Und wie werden sie diese meistern?
Für die meisten Herausforderungen hat sich die liberale Demokratie und auch die Marktwirtschaft als besonders leistungsfähig erwiesen. Womöglich muss beides ergänzt werden: die Demokratie womöglich durch Verfahren, die nicht nur die Repräsentation von Bevölkerungsgruppen und Interessen organisieren, sondern auch die Entstehung von Wissen für die Lösung der Weltprobleme. Ich stelle mir Parlamente vor, in denen Problemlöser unterschiedlicher Kompetenzen um die beste Lösung
Werden sich die Menschen auch in 200 Jahren gegen Risiken absichern, also Versicherungen brauchen? Und werden solche Versicherungen wichtiger oder unwichtiger sein als heute?
Ich bin mir sicher, dass es auch in der Zukunft solche Sicherungssysteme geben muss. Sie werden bei steigender Komplexität wahrscheinlich eher wichtiger. Die Risiken dürften dieselben wie heute sein, aber sicher sehr angepasst an neue Lebensstile. Es wird weiterhin Versicherungen geben – ob diese privatwirtschaftlich oder öffentlich-rechtlich oder kombiniert sein werden, kann man heute nicht sagen. Ich nehme an, dass dieser Mix, wie wir ihn in Deutschland kennen, sehr zukunftsfähig sein kann.
ZurPerson: Armin Nassehi, 60, ist Professor für Soziologie in an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Intellektuellen in Deutschland.
Hinterlasse einen Kommentar